Der Anfang – September 2002
Severin spielt mit seiner Fußball-Mannschaft das Saisoneröffnungs-Tunier; der Knopf schien aufgegangen; er stürmte nach vorn wie nie; Was war ich stolz auf unseren Schatz. Dann bekam er einen Ball an den Kopf, stürzte, sein Bein war kurz eingeschlafen.
Kurze Zeit später macht uns sein Fußballtrainer auf Severins Kopfschiefhaltung aufmerksam; wir dachten anfangs, er hat einen Sehfehler auf einem Auge und ich mache einen Termin beim Augenarzt. Bis zum Termin am 10. Oktober verstärkt sich die Kopfschiefhaltung; er scheint nur mit dem rechten Auge die Dinge zu fixieren. Severin ist ziemlich niedergeschlagen wegen des Augenarztbesuches, er will um keinen Preis eine Brille.
Endlich der Termin beim Augenarzt; zwar gibt es eine leichte Sehschwäche; die aber in seinem Alter vom Auge kompensiert wird; Der Arzt empfiehlt eine Netzhauthintergrund- und eine Gesichtsfeld-Untersuchung; wir wollen am kommenden Tag in Urlaub fahren; Ich soll mich nicht verrückt machen und erst einmal fahren. Doch in der Nacht ist an Schlaf nicht zu denken, ich will zumindest die Gesichtsfelduntersuchung noch vorm Urlaub machen; das klappt auch und das Ergebnis ist prima; kein Ausfall; also fahren wir nach beruhigenden Worten des Augenarztes nach Center Parc. Es wird kein schöner Urlaub; Severin hat an nichts Spaß; zankt sich permanent mit seiner Schwester; die Kopfschiefhaltung wird merklich schlimmer und er stolpert zunehmend über seine eigenen Füße; entwickelt zudem eine Höhenangst, die uns unerklärlich ist.
Der neue Termin direkt am Montag nach dem Urlaub bringt kein Ergebnis. Wir sollen auf einen Termin in sechs Wochen bei der Augenklinik warten. Am Tag drauf bringe ich Severin zu seiner Kinderärztin. Nach kurzem Blick auf ihn schreibt sie die Überweisung für die Uni Klinik: Verdacht auf Hirntumor. Der 22. Oktober 2002.
Diagnose: 23.10.2002
Das MRT bringt dann die Diagnose: Ponsgliom. Der Neurochirurg, der sich die Bilder ansieht bestätigt die Inoperabilität des Tumors und räumt Severin keinerlei Heilungschance ein (0 % wörtlich). Ein neuerliches MRT zeigt, dass es keinerlei Metastasten im Rücken gibt. Wir stehen vor der Entscheidung, einer stereotaktischen Biopsie zuzustimmen oder nicht. Wir stimmen nach langem Abwägen zu und verbringen das 1. Wochenende zu Haus. Ein Albtraum. Bei allem was wir tun, denke ich: Das könnte jetzt das letzte Mal sein mit Severin.
Stereotaktische Biopsie: 28.10.2002
5 ½ Stunden OP, „Er wird es schaffen, diese OP, er ist nachts zum ersten Mal aufgewacht, er wacht auch jetzt wieder auf.“ Severin verkraftet die OP gut, er ist am nächsten Tag schon wieder auf den Beinen und hat keinerlei Ausfälle davongetragen. Das Ergebnis: Astrocytom II. Der Kampf beginnt.
Am 04.11.02 bekommt er einen Broviac-Katheter implantiert, über den die zukünftigen Chemos laufen sollen. Alles verläuft, trotz starker Bronchitis vor der OP und kleinerer Atemprobleme während der OP gut.
1. Chemo-Therapie
Anfang November beginnt die erste Chemo mit 2 MTX-Blöcken. Im Krankenhaus geht es Severin jeweils gut. Zu Hause beginnen jeweils 2-3 Tage später die Nebenwirkungen. Die Schleimhäute entzünden sich, er kann kaum schlucken, nicht essen kaum sprechen und ist vom Cortison depressiv. Originalton Severin: „Ich möchte lieber Sterben, Mama“.
Nachdem das Cortison abgesetzte wird, ändert sich sein Gemütszustand wieder schlagartig. Er hat wieder Lust die Dinge anzugehen, auf seine Art.
Am 28.11. feiern wir seinen 7. Geburtstag auf Station. Es scheint ihm wenig auszumachen, dass er nicht zuhause ist. Der Zauberer, den wir organisieren, gefällt ihm zwar gut, haut ihn aber auch nicht aus den Latschen. Doch eigentlich war er ja immer so. Er mochte nie im Mittelpunkt stehen und hat sich lieber alles von der Seite angesehen.
Schule
Am 22.11.02 findet der 1. Besuch seiner Hauslehrerin statt. Severin ist hoch motiviert, er schreibt und rechnet alleine vor sich hin und ist stolz über jeden kleinen Fortschritt. Er war ja schließlich nur 6 Wochen in der Schule und sein größtes Problem anfangs im Krankenhaus war, dass er ja Lesen lernen muss. Und wie er es gelernt hat, in großer Geschwindigkeit und supergut.
Überhaupt haben die Schule zu Hause und die Schule im Krankenhaus einen hohen Stellenwert bei Severin. Es ist für ihn Ablenkung, Ansporn, eine Aufgabe und Therapie zugleich.
Überhaupt geht es ihm zu diesem Zeitpunkt schon besser, seine Symptome wie das fehlende Gleichgewicht und die Augenprobleme bessern sich merklich.
Zweitmeinungen
Zwischenzeitlich habe ich das Internet als Informationsquelle entdeckt und verschicke die MRT-Bilder an weitere Neurochirurgen in Deutschland. Das Ergebnis ist überall das gleiche: Ponsgliom, inoperabel.
Neue MRT-Bilder
Nach den beiden MTX-Blöcken werden neue Bilder gemacht. Es zeigt sich keine Veränderung. Severin verträgt diesmal die Sedierung ganz super, er ist direkt wieder wach, lacht mich an und bohrt in der Nase. Nach knapp 1 ½ Stunden können wir schon wieder nach Hause. Ich hatte mir solche Gedanken gemacht, wie er wohl drauf sein würde, nachdem die letzten Male so schlimm waren. Er war richtig grantig und schlecht gelaunt. Diesmal genau das Gegenteil.
Bestrahlung und Chemo – 16.12.2002
Bisher wusste Severin, dass er einen Tumor hat, dass Chemotherapie gemacht wird und Bestrahlung (wovor er etwas Angst hatte) und dass das alles Nebenwirkungen hat. Heute hat er mich gefragt, ob das Krebs ist was er hat. Ich habe ihm wahrheitsgemäß geantwortet. Er hat das ganz ruhig aufgenommen. Ich hoffe, dass es ihn nicht „runterzieht“, sondern dass er weiterhin so wie bisher mit seiner Situation umgeht. Er nimmt es so wie es kommt. Freute sich heute z.B. darüber, dass er sich wieder zu „Mauerlaufen“ traut. Lieber Gott, wie geht dieses Kind damit um. Sein Leben ist auf den Kopf gestellt, und er beklagt sich nicht mal.
Am Tag bevor die Bestrahlung starten soll bekomme ich einen Anruf eines Arztes, dem ich Severins Bilder via CD-Rom geschickt hatte. Er konnte die Bilder zwar nicht öffnen, rät mir aber trotzdem entschieden von einer Bestrahlung ab. Zumal Severins Allgemeinzustand so gut ist. Ich solle warten bis der Tumor wächst und vielleicht aus II, III oder IV geworden ist. Eine furchtbare Zeit der Entscheidung. Was ist richtig? Mit der Bestrahlung warten, bis der Tumor wächst und maligner wird? Und dann? Vielleicht geht es Severin dann so schlecht, dass er gar keine Strahlentherapie mehr durchziehen kann. Andererseits: Die Spätfolgen bei Kindern sind immens: Schulische Defizite; Strahlennekrosen etc. Ich bin hin- und hergerissen. Ich hasse dieses Gefühl der Ohnmacht.
Wir entscheiden, die Bestrahlung jetzt durchführen zu lassen, bevor es Severin schlechter geht. Obwohl die Chancen schlecht stehen für eine komplette Reduktion des Tumors und obwohl die Nebenwirkungen erheblich sind.
Wir gehen wieder auf Station, für den 3. Chemoblock. Alles in allem verträgt er die Chemo einigermaßen gut. Er hat öfter Bauchweh und spuckt 2-3 Mal am Tag. Er leidet an Verstopfung und bekommt mehrmals Zäpfchen, die nicht helfen. Erst ein Einlauf hilft. Daraufhin hat er am nächsten Tag Durchfall, was unseren Heimgang an Heiligabend zu vereiteln scheint. Doch an Heiligabend beschliessen wir, ihn dann doch, ihn mit nach Hause zu nehmen. Trotz weiterer Übelkeit. Zuhause geht’s ihm jetzt eigentlich gut. Er hat zwar während des Essens gebrochen, doch anschließend weiter gegessen und ist auch ziemlich gut drauf – psychisch.
Die Bestrahlung war dagegen anfangs einfach grausam. Severin hatte Panik beim Anpassen der Maske, weinte, zitterte und hatte einfach nur Angst. Zumal ich ja auch den Raum verlassen musste und er auf einer schmalen Liege hoch und runter gefahren wurde. Es war einfach schrecklich. Bei der Simulation verlief es ähnlich. Doch seit der 1. Bestrahlung scheint er sich an die Situation gewöhnt zu haben und kommt gut damit klar.
Schmerzen – 29.12.02
Die letzten zwei Nächte waren schlimm. Severin hat schlimme Rückenschmerzen und Beinschmerzen und wacht deshalb fast stündlich auf und weint. Die Tabletten und Zäpfchen scheinen nicht wirklich zu wirken. Heute ist die erste Nacht, wo er etwas ruhiger schläft. Über Tag scheint es auch meist besser zu gehen. Er klagt zwar über Rückenschmerzen, ist aber sonst leicht abzulenken. Die Übelkeit wird langsam besser. Nein, es geht ihm nicht wirklich gut. Er möchte aber unbedingt Sylvester zuhause sein. Ich hoffe, das klappt auch.
Für die Bestrahlung musste dann eine neue Maske angefertigt werden, weil die alte zu weit geworden war. Vermutlich vom Abnehmen an sich aber auch von dem verschwundenen Mondgesicht durch das abgesetzte Cortison. Doch die Panik ist weg und das Erleichtert alles: Das Anpassen der neuen Maske und die Bestrahlungen an sich.
Anfang Januar bessert sich Severins Zustand weiter. Er hat keine Schmerzen mehr, spielt gern Billard und Dart, malt Window Color ohne Ende. Manchmal denke ich, sein Kurzzeitgedächtnis lässt nach und dann jedoch scheint er mich nur auf den Arm zu nehmen. So langsam fallen dann auch die Haare aus, aber auch hier: Es scheint ihn nicht zu beeindrucken. Das ist dann eben so. Seine Kappe schleppt er überall mit hin, vergisst sie aber nach kurzer Zeit und das Ding landet in irgendeiner Ecke.
Januar 2003 – Bestrahlung und Chemo
Während der restlichen Bestrahlungstermine geht es Severin immer besser. Er läuft wieder fast normal, hat im Grunde keine Schmerzen und ist fröhlich und fidel. Seine Blutwerte bleiben stabil. Überhaupt ist Bestrahlung für ihn das Beste, sagt er. Er ist ziemlich traurig, als dann wirklich der letzte Termin hinter uns liegt. Alle paar Tage klagt er über Kopfschmerzen, die immer nur ein paar Minuten anhalten und er übergibt sich alle paar Tage mal wieder.
Ende Januar fängt sich Severin eine Mittelohrentzündung, die ihn etwas mitnimmt. Trotzdem beginnt der letzte große Chemo-Block auf Station. Der Block haut dann richtig zu. Severin bricht alles aus, behält nicht mal mehr Wasser bei sich und isst auch nichts mehr. Bis zum Montag steigert sich das ganze. Er liegt nur im Bett und kann sich kaum zu etwas aufraffen. Am Dienstag bekommt er eine hohe Dosis Cortison i.V. Das hilft nun endlich. Er isst am gleichen Abend wieder und bricht deutlich weniger. Seither ist sein Appetit wieder da und es scheint aufwärts zu gehen. Allerdings hat er während diesem Chemoblock wieder fürchterliche Rückenschmerzen. Weil es untypisch als Nebenwirkung auf die Chemos ist, werden ein Röntgen und ein MR angesetzt. Röntgen ist direkt unauffällig und wird später als „therapeutisches Röntgen“ eingestuft. Severin sollte nämlich wegen der Rückenschmerzen im Bett zum Röntgen gefahren werden, doch das wollte er nun gar nicht und meinte, die Rückenschmerzen seien nicht so schlimm, dass er nicht auch laufen könne. Das ging dann auch wirklich und von Rückenschmerzen war keine Rede mehr. Auch das anschließende MRT brachte keinen wirklichen Aufschluss, wo die Schmerzen herkamen.
Dafür sind im Anschluss an den Chemo-Block die Blutwerte im Keller. Leukozyten bei 50; also heißt es nach kurzer Pause zu Haus wieder auf Station und das in Isolation – wegen der zu geringen Leukos. Es dauert dann 5 Tage, bis er sich aus dem Zelltief wieder rausgeholt hat.
Am Tag als Severin entlassen wurde, starb leider vormittags sein Freund Okan auf Station. Severin erfuhr von einer anderen Mutter. Severin ließ sich dann auf ein Gespräch mit der Psychologin ein und meinte sein Opa Willi wäre sein Bester gewesen und der wäre jetzt auch im Himmel und in seinem Herzen wie Okan. Er meinte dann einer sei rechts, der andere links in seiner Brust und in der Mitte sei noch Platz für jemand.
Februar 2003
Karnevalsfreitag werden neue Kontroll-MRT-Aufnahmen gemacht. Im Tumor haben sich kleine Zysten mit Flüssigkeit gebildet (Blut, Wasser?). Jedoch werden die Bilder vom zuständigen Onkologen als positiv angesehen.
März 2003 – Leverkusen, Schule und Überdosis
Am 1. März fährt Severin mit Papa nach Leverkusen in die Bay-Arena zum Fußball. Ein tolles Erlebnis für die beiden. Sinah und ich sind derweil in Mengenich beim Zooch und genießen es auch sehr.
Am 5. März ist Severins 1. Schultag nach vier Monaten. Die Psychologin der Kinderstation der Uni begleitet ihn zur 1. Stunde. Er schockt mit seiner Abgeklärtheit. Auf die Frage, was das denn sei, was er habe, meint er trocken: Krebs, was sonst. Und als er nach Freunden im Krankenhaus gefragt wird, antwortet er, er habe einen Freund gehabt, aber der sei gestorben. Im Krankenhaus, meint er, hätte es ihm immer gut gefallen, außer in der Zeit auf Iso, als die Leukos so niedrig waren. Die Psychologin musste ne ganze Menge erklären. Sie meinte im Anschluss, der Unterschied zwischen einer Klasse und einem Krebskind wäre ihr noch nie so groß vorgekommen. Severin sei halt viel weiter und reifer als der Rest, und das könne man merken. Er geht jedenfalls wieder mit Elan seine 2 Stunden täglich in die Schule und genießt es.
07.03.03
Der verhängnisvolle Freitag. Severin bekommt das erste Mal Vincristin über einen Zugang im Arm gespritzt, es klappt wunderbar. Mir wird erklärt, was ich ihm am Wochenende zu geben habe (1. Block der Erhaltungstherapie. Ich habe die Medikamente bereits bei mir und zeige sie. Vincristin bleibt gleich in der Tagesklinik. 2 ½ große Kapseln vom CCNU kommen mir so viel vor (50 Stück). Ich frage nach. Ich höre, das sei nicht so viel und gut zu schlucken, wie das Diflucan. Ich meine, ob ich dass aus den kleinen Kapseln nehmen kann, um nicht so eine Menge zu haben. Er meint, dass sei nicht nötig. Ich bin sicher, zu wissen, was gemeint ist und wir gehen nach Hause.
Severin bekommt die ersten Kapseln CCNU und bricht alles aus noch bevor alle Kapseln drin sind wieder aus. Ich sage, okay, mit dem Rest versuchen wir es morgen noch mal. Ich gebe Severin den Rest der Kapseln: 32 Stück, die ersten 28 hatte er a ausgebrochen. Diesmal nehme ich das Pulver aus den Kapseln und gebe es auf einem Löffel. Es bleibt drin bis nachts. Nach sechs Stunden erbricht er sich wieder.
Am Morgen, als Severin in der Schule ist, rufe ich in der Uni an, weil Severin wieder erbrochen hat. Der Doc meint, ich solle es heute nochmals versuchen. Severin müsse die schon nehmen. Ich entgegne, ich habe ja gar keine mehr – hatte ja eh nur die für die erste Gabe. Er wird stutzig und fragt, wie viel Severin genommen habe. Ich erkläre ihm, erst 28, die komplett erbrochen wurde und gestern den Rest. Insgesamt 60 Kapseln. Es wird klar, dass das eine totale Überdosis war. Dennoch solle ich ruhig bleiben, er hätte ja erbrochen und da er bereits in der Schule sei und es ihm gut gehe, solle ich am nächsten Tag zur Ambulanz kommen. Nach einer Stunde werde ich wieder angerufen. Ich solle auf jeden Fall Cortison weitergeben und kein Glivec und wenn es mich beruhige, schon heute kommen.
Ich fahre mittags in die Klinik. Von da an geht alles sehr schnell. Severin soll für eine Dialyse des Blutes einen Shelden-Katheter bekommen, die OP kann aber nicht direkt gemacht werden, weil er gegessen hat. Es wird abgewogen, was schlimmer ist, der Zeitverlust bis zur Dialyse oder die Narkosekomplikationen wegen des Essens. Wir sind mittlerweile auf Intensivstation, weil der Shelden da gelegt werden soll. Die Ärzte mutmaßen über die Haltwertzeit des CCNU. Es werden drei unterschiedliche Quellen aufgetan mit unterschiedlichen Ergebnissen. Ich bin fix und fertig. Keiner weiß, wie er das Zeug vertragen wird. Diese Überdosis hat noch keiner so bekommen und wir wissen nicht, wie viel nach dem Brechen tatsächlich im Körper ist.
Ein Arzt erklärt mir, die Knochenmarkschädigung könne so groß sein, dass Severin sich davon nicht mehr erholt. Ich bitte darum, das Risiko der Narkose einzugehen. Um 19.00 Uhr ist der Shelden gelegt. Gegen 21.00 Uhr wird mit der Dialyse begonnen. Doch der Katheter läuft nicht besonders gut. Es wird mit ziemlich geringem Fluss gearbeitet und soll am nächsten Morgen nochmals wiederholt werden. Severin fragt allen Löcher in den Bauch. Lässt sich alles erklären, das Intensivzimmer, die Dialyse alles. Er ist aufgekratzt und kommt nicht zur Ruhe. Selbst nach der OP nicht.
Die Dialyse am nächsten Morgen läuft gar nicht. Der Shelden liegt an einer Wand an und es kann nicht genug Fluss aufgebaut werden. Für die anschließende Stammzellsammlung reicht es dann aber doch. Ein furchtbarer Tag. Erst Stunden bei der Dialyse, dann 5 Stunden Stammzellsammlung. Und Severin ist wie immer. Er lässt sich nicht unterkriegen. Das Ergebnis der Stammzellsammlung ist niederschmetternd. 2 Mio. würden gebraucht, 0,4 Mio. konnten gesammelt werden. Das ganze soll noch mal wiederholt werden.
Zwei Tage später erneute Stammzellsammlung. Die Leukos fangen schon an zu sinken. Obwohl der Wert der Stammzellen etwas angestiegen ist, wird diesmal noch weniger gesammelt als beim ersten Mal. Hoffentlich brauchen wir das nicht wirklich für den Ernstfall, ob die Menge dann ausreicht ist nicht sicher. Sinah soll zusätzlich typisiert werden. Immer die Angst im Nacken, wie lange hält er das durch. Severin ist weiterhin wie immer. Er bekommt Ausschlag am Mund. Entweder Bakterien oder ein Herpes. Nichts ist sicher.
Im Laufe der nächsten 6 Wochen sinken seine Blutwerte ständig. Er bekommt Transfusionen alle paar Tage, um das gröbste Aufzufangen. Doch die Leukozyten lassen sich nicht mit Transfusionen auffangen. Wir spritzen Neupogen, ein Medikament, das die Produktion anregen soll über 7 ½ Wochen täglich. In dieser Zeit bastelt und malt Severin unaufhörlich mit der Kunsttherapeutin der Klinik. Er ist ständig isoliert auf seinem Zimmer und wartet sehnsüchtig auf sie und seine Lehrerin. Zwischendurch können wir ein paar Tage nach Hause. Man sieht und merkt ihm nicht an, was wirklich los ist.
Am 28.03. sind wir vom Termin in der Tagesklinik gegen 16.00 Uhr wieder zu Haus. Um 17.30 Uhr bekommt er Fieber und wir fahren wieder in die Uni und werden gleich aufgenommen. Doch auf Station ist kein Platz. Also gehe wir auf Kinder II ins Haus 10. Eigentlich eine Station für nierenkranke Kinder. Alles ist anders. Das Zimmer zwar klein, aber für uns. Doch von Onko haben die Schwestern und Ärzte kaum Ahnung. Jedes Blutabnehmen scheint ein Problem. Die Sterilitätsvorkehrungen sind andere. Wir bleiben bis einschließlich Mittwoch und können dann zurück auf Onko. Ich komme mir vor, als käme ich nach Hause. Gott-sei-Dank wieder auf Onko. Nicht mehr allein, obwohl weiter Iso herrscht. Das Fieber geht nicht runter. Die Leukos steigen und fallen. Die Bronchitis macht zu schaffen. Gute Leukos: Gute Stimmung, Wenig Leukos: Depri. Berg- und Talfahrt der Werte und der Gefühle. Permanent Angst, Magendruck. Was kommt morgen? Der Prof. meint ein bisschen Zeit hätten wir ja noch. Wie viel ist ein bisschen?
April 2003 – Zelltief überwunden
Wir feierten meinen Geburtstag auf Station. Und Severin war das erste Mal wieder aus dem Zimmer. Er hatte genügend Leukos und wir konnten zusammen mit Venna auf dem Dach der Kinderklinik ein Picknick veranstalten. Welch ein Geschenk. Das Fieber ging erst nach der dritten Antibiotika-Runde runter. Doch dann kam eine dicke Lungenentzündung. Severin musste drei Nächte und einen vollen Tag mit Sauerstoffmaske schlafen, spielen, Schule machen. Die Sauerstoffsättigung ging weit runter. Angst pur. Auf meine Nachfrage hin bekam er dann Cortison i.V. und als Inhalation und siehe da, die Lungenentzündung ging wieder und die Leukos kamen. Er wurde mit 3000 Leukos entlassen. Ist das das Ende der Fahnenstange?
Die Blutwerte halten sich seither stabil. Severin bekommt zwar alle paar Tage noch Thrombozyten und Erythrozten-Konzentrate, doch die Leukos bleiben gut. Doch an Aufatmen ist nicht wirklich zu denken. Die Kopfschiefhaltung ist wieder merklich mehr geworden.
Wir waren dann auch genau eine Woche zu Haus bis Severins Zustand zunehmend schlechter wurde. Er lag den ganzen Donnerstag mit Kopfschmerzen auf der Coach, bekam am Nachmittag von mir ein Zäpfchen für die Schmerzen, nachts noch mal Tramal. Am nächsten Morgen war er nur mit Zäpfchen in der Lage aufzustehen um zum Ambulanz-Termin nach Köln zu fahren. Der Prof. sah dann auch den Hirndruck im Augenhintergrund und ordnete sofort ein Notfall-MRT an. Das Ergebnis ist eine ca. 4 cm große Zyste, die den Hirnstamm nach unten in Richtung Rückenmark drückt. Wir hatten mehrer Gespräche mit dem Onkologen und dem Neurochirurgen.
Severin wurde dann am 07.05. operiert, um die Zyste abzusaugen und nochmals eine Tumorprobe entnehmen zu lassen. Die MRT Bilder lassen keinen Rückschluss darauf zu, ob nur die Zyste gewachsen ist, oder auch der Tumor. Ob es sich um Nekrose handelt oder Tumorwachstum. Das Ödem rund um Tumor und Zyste wird mit Dexamethason behandelt. Der Erfolg ist, dass die Kopfschmerzen und die Übelkeit verschwunden sind und Severin wieder gerade schaut und läuft.
Die OP verlief technisch gut. Die Zysten und ein kleiner Teil des Tumors konnten entfernt werden. In den Aufklärungsgesprächen vorher wurde der Ernst der Lage für mich sehr deutlich. Angefangen bei einer Querschnittlähmung über Atemstillstand bis hin zu den üblichen Narkoserisiken war alles enthalten, was nur passieren kann. Und dennoch: Nach elf Stunden Narkose auf Intensiv wurde er problemlos extubiert und konnte schon am nächsten Nachmittag wieder auf seine Station zurück.
Es bleiben einige Ausfälle. Eine halbseitige Gesichtslähmung, massive Doppelbilder, ein fehlender Schluckreflex links und eine eher leise, nicht immer verständliche Aussprache. Und die ersten Tage ein absoluter Stimmungseinbruch unter anderem auch durch Cortison.
Zwölf Tage nach OP kann Severin wieder nach Haus. Er hat gelernt vorsichtig zu schlucken und die Doppelbilder mit einer Piraten-Augenklappe zu vermeiden. Seine Stimmung ist mittlerweile dank abgesetztem Cortison wieder prima. Er erscheint mir vielleicht ein bisschen leiser als vorher, doch seine frechen Sprüche kommen weiterhin und sind ein gutes Zeichen für mich. Er hat wieder mal einen Sieg errungen und einen Schritt nach vorn gemacht.
Jetzt ist erstmal Behandlungspause angesagt und ich hoffe, auch wirklich es bleibt bei zwei bis drei Wochen Ruhe. Danach werden wir weitersehen, was an Therapie noch folgt. Orale Chemo, Impfung etc. Aber erstmal Ruhe, Ausruhen, Zeit genießen.
Juni 2003
Wir haben das erste Mal seit Therapiebeginn einen 1-wöchigen Rhythmus um zur Kontrolle in die Klinik zu fahren. Ist schon ganz schön ungewohnt sooo viel freie Zeit. Severin geht's soweit ganz gut. Er hatte zwischenzeitlich wieder mit Kopfschmerzen zu kämpfen, gegen die er jetzt erstmal Cortison nimmt. Jetzt müssen wir abwarten, ob die Kopfschmerzen wieder kommen, wenn das Cortison ausgeschlichen ist. Dann sehen wir weiter. Ansonsten macht er ganz kleine Fortschritte, was die Ausfälle angeht. Das Schlucken klappt wieder ganz gut und seine Sprache ist auch besser verständlich.
Kein ganz normaler Kliniktag
Donnerstag, der 12.06.2002. Für heute ist eine erneute Stammzellsammlung in der Tagesklinik geplant. Die Zellen sollen später für eine Impfung mit dendritischen Zellen aufbereitet werden. Severin kennt die Prozedur schon vom März, als wir bereits zwei Mal Stammzellen gesammelt haben, um für die mögliche Knochenmarkvergiftung gerüstet zu sein. Ich will mal beschreiben, wie so ein Tag aussieht:
7.30 h: Severins Wecker klingelt und er steht auf, um mich zu wecken, zieht sich an und wir fahren um
8.00 h los. Es geht zuerst bei der Bäckerei vorbei, um Proviant für den Tag mitzunehmen. Kurz vor
9.00 h sind wir in der Klinik. Severin fährt mit seiner neuen „Harley Davidson“ in die Tagesklinik und wird ziemlich zügig gegen
10.00 hangeschlossen. D.h. er bekommt zusätzlich zu seinem Broviac-Katheter noch einen Zugang in die Hand gelegt. Die Maschine benötigt einen Zufluss (aus dem Broviac) und einen Rückfluss (eben in der Hand. Um Severin noch ein bisschen Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, wird der Zugang in die linke Hand gelegt, so dass er mit rechts noch einiges machen kann. Er wird weiter verkabelt. Es muss alle 10 Minuten der Blutdruck gemessen werden (Manschette am rechten Bein) und er wird ständig per EKG (Elektroden am Oberkörper) überwacht. Aufgrund von neuen Kopfschmerzen nimmt er Paracetamol.
11.00 hDie Maschine läuft jetzt auf „Hochtouren“ und ist richtig eingestellt, so dass die Sammlung beginnen kann. Kurz danach kommt als erstes die Lehrerin und Severin macht Unterricht, eine Stunde lang ungefähr. Er schreibt und rechnet. Gegen
12.00 hbringt die Kunsttherapeutin Malutensilien mit. Die beiden malen Bilder mit Plakafarbe, zum Teil mit Pinsel, zum Teil mit den Fingern. Eins der Bilder hängt jetzt zu Haus. Während des Malens kommt ihn Tom kurz besuchen. Anschließend spielen wir Karten-Monopoly und Severin schaut fern.
16.00 hDie Sammlung ist beendet. Severin bekommt noch seine Vincristin-Spritze (Chemo) und wird abgestöpselt. Jetzt heißt es nur noch warten auf die Blutergebnisse. Der größte Teil der Werte ist nach kurzer Zeit da und in Ordnung. Auf einen Wert warten wir auf Station (weil die Tagesklinik schließt) bis
19.00 hDer letzte Wert ist in Ordnung. Zwischenzeitlich hat er mit Venna gespielt, mit der Kunsttherapeutin wieder gemalt, was gegessen und ist gut drauf. Auf dem Weg nach Hause meint er im Auto: „Mama, das war der schönste Tag in meinem Leben, war das schön.“ Ich bin völlig fertig und trau meinen Ohren nicht. Aber er meint das ganz Ernst. Als wir dann auch noch einen Ball bei Aral abholen (Geht eigentlich einer noch wo anders tanken?), ist die Welt vollkommen in Ordnung als wir schlussendlich um
19.30 hwieder zuhause ankommen.
Juli 2003
Severin war zwischenzeitlich für eine Woche in Urlaub – allein. D.h. nicht ganz allein, sondern mit anderen Kindern und einem super Betreuertermin der Uni-Kinderkliniken Köln und Bonn. Reiten auf dem Hirschberghof in Großalmerode bei Kassel. Es hat ihm super gut gefallen und ich denke, er hat die Woche genießen können. Er hatte zwar doch auch zu kämpfen, mit sich, mit anderen Kindern und der Situation an sich, aber alles in allem hat es ihm sichtlich gut getan. Und um ehrlich zu sein – uns auch. Wir hatten etwas mehr Zeit für Sinah, die das auch mal gebraucht hat und konnten einiges unternehmen, was mit Severin zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war.
Zu hause wieder zurück kamen die Nebenwirkungen der letzten Chemo. Müdigkeit, Rückenschmerzen, Schmerzen in den Beinen und Kopfschmerzen. Doch nach einer Woche war auch das wieder vorbei. Selbst die Kopfschmerzen sind diesmal ohne Schmerzmittel und ohne Kortison wieder verschwunden. Doch die „Nebenwirkungen“ bei mir sind die gleichen. Jede Kopfschmerzattacke löst erneut Ängste und Befürchtungen aus. Was kommt jetzt wieder auf uns zu? Alles in allem geht’s Severin aber Anfang Juli das erste Mal nach der OP wieder gut. Er hat zwar weiterhin Doppelbilder und einige andere Ausfälle, doch es geht im ganzen viel besser. Für Anfang August ist jetzt die 1. Impfung mit dendritischen Zellen vorgesehen. Wir sind gespannt.
Für den 25.07.03 ist ein neues MRT geplant. Zum einen weil die Ärzte einen Status vor der 1. Impfung mit dendritischen Zellen sehen möchten, zum anderen, weil Severin seit zwei Wochen wieder unter Kopfschmerzen leidet, die zwar mit Paracetamol verschwinden, aber doch immer häufiger am Tag auftreten. Drückt uns die Daumen.
Das MRT ist also jetzt gelaufen und der vorläufig, vorläufig, vorläufige Befund sieht auf den ersten Blick gar nicht schlecht aus: Kein weiteres zystenartiges Gewebe, Oedem im Rückzug, Resttumor stabil. Nur Severins Kopfschmerzen passen nicht ins Bild. Trotzdem wir geniessen erstmal die Atempause. Danke an alle fürs Daumendrücken.
August 2003 - Urlaub
Wir haben es geschafft und sind im Anschluß an die erste Impfung mit dendritischen Zellen in Urlaub gefahren. Die Impfung an sich war schon ein kleines Ereignis. Jede Menge Ärzte und Schwestern um Severin als er 9! Spritzen gesetzt bekam. Drei in jeden Arm nähe der Lymphknoten im Achselbereich und drei in ein Bein nähe der Leiste. Bis auf die Piekserei hat er alles super vertragen und auch das wieder bravourös gemeistert.
Unser Urlaub in Schröcken war einfach klasse. Was haben uns diese Tage gutgetan. Severin war prima drauf. Zwar mußte er fast täglich Schmerztabletten nehmen wegen der Kopfschmerzen, aber im Laufe der Tage wurde das immer weniger. Sinah und er sind mit uns ganz super gewandert und haben es richtig genossen. Wir sind mit dem Boot auf dem Bodensee gewesen, haben die Sommerrodelbahn genutzt und die Wälderbahn, die durch einen kleinen Teil des Bregenzerwaldes führt. Wir waren Angeln in Lech und zum Schluß noch zwei Tage im Europapark in Rust. Sensationeller Abschluß eines tollen Urlaubs. Nicht zuletzt dank Franzi und Josef, die es geschafft haben, so normal wie immer mit uns umzugehen. Tut das gut. Glaubt mir, das ist lange nicht selbstverständlich. Lieben Dank nochmal ihr beiden!!!
Jetzt steht die 2. Impfung bevor, für die Severin vier Tage zur Beobachtung auf Station bleiben wird. Die Gefahr besteht, dass sich ein Oedem bildet und um dem schnellstmöglich entgegenzuwirken in Form von iV Cortison bleiben wir halt auf "Onko".
Die Impfung hat Severin wieder gut geschafft. Es gab zwar nach 48 h leichte Anzeichen von Nebenwirkungen (Müdigkeit und Übelkeit), aber am Tag darauf hatte er sich davon wieder gut erholt und wir konnten wie geplant nach Hause. Nach diesem schönen Sommer, den wir wirklich genossen haben, steht jetzt der Herbst an. Wir üben ein bischen "Alltag" mit Schule, Krankengymnastik, Logopädie und doch noch vielen Ausflügen. Vor allem ins Tierheim. Die beiden Pänz wünschen sich nämlich Zwergkaninchen. Außerdem planen wir Urlaub, wann und wohin ist noch nicht ganz klar, aber DisneyLand Paris steht schon ziemlich oben auf der Liste.